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59! "Da sanken die Kollegen vor Kaymer in die Knie"

News

01. April 2011

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Nicht viele Menschen können davon erzählen, wie sie einmal eine Golfrunde mit der Nummer 1 der Welt gespielt haben. Der Engländer Lee Spencer, PGA Golfprofessional im GC Holledau (Bild 6), erlebte 2006 eine ganz besondere Runde gemeinsam mit Martin Kaymer: Die heute legendäre 59 am zweiten Tag des EPD-Tour-Turniers Habsberg Classic.

 

Von Lee Spencer

Ich spielte 2006 gemeinsam mit Martin Kaymer auf der EPD Tour, der dritten Liga des Profigolfs. Ich war ein etablierter Profi, Kaymer ein 21-jähriger Nachwuchsspieler, dem ein gewisser Ruf vorauseilte. Der sei ein wirklich Guter, hörte ich vor unserer ersten gemeinsamen Runde. Wirklich Gute hatte ich aber schon viele gesehen, und dann ist aus ihnen doch nichts geworden. Also waren meine Erwartungen nicht besonders hoch. Er spielte am ersten Tag auf dem Par-72-Kurs eine 68. Gut. Aber nicht phänomenal. Dennoch war sein Spiel beeindruckend. Und ich sagte zu meinen Kumpels: „Ich habe gerade den besten Spieler gesehen, mit ich jemals gespielt habe.“ Die Jungs winkten lachend ab.

Am nächsten Tag gingen sie vor Kaymer in die Knie. Denn da spielte er eine Runde wie sie kaum einem Golfer vergönnt ist: eine 59. Zum Vergleich: Ein solches Traumergebnis gelang in der über 40-jährigen Geschichte der großen US Tour erst fünf Spielern.

Der 20. Juni war perfekt: über 20 Grad, Sonnenschein, kein Wind. Wir waren zu dritt – außer mir und Kaymer noch Richard Treis. Um 13 Uhr sollten wir auf die zweite Runde der Habsberg Classic in der Oberpfalz gehen. Rund 3000 Euro gab es für den Sieger. Vor dem ersten Schlag tauschen Golfer immer untereinander die Zählkarten aus. Auf der Runde schreiben sie die Ergebnisse eines Mitspielers auf. Ich war für Martin zuständig. Und glauben Sie mir, noch heute kann ich jeden einzelnen seiner 59 Schläge aufzählen. Niemals wieder habe ich eine solche Runde gesehen.

Dabei leistete sich Martin gleich auf der zweiten Bahn einen Fehler. Er brauchte vier statt der vorgesehenen drei Schläge – ein Bogey. Angesehen hat man es ihm nicht. Ob Traumschlag oder Fehler, Martin reagierte immer gleich: gar nicht. Eine große Stärke in einem Sport, der sich so sehr im Kopf abspielt. Und so war ihm auch nicht anzumerken, als er zu einer Traumrunde ansetzte. Er reihte Birdie an Birdie, blieb also Loch für Loch einen Schlag unter dem Platzstandard. Die Abschläge waren lang und flogen auf die Mitte der Bahnen. Seine Schläge ins Grün waren genauso präzise. Jeder Ball fand sein Ziel, der anschließende Putt war selten länger als zwei Meter. Tot an der Fahne, nennen wir das.

Wenn ich die Zahl 59 höre, denke ich an eingelochte Bälle aus hundert Metern oder an Treffer aus dem Sandbunker. An Wunderschläge eben, ohne die eine solches Ergebnis nicht zustanden kommen kann. Martins 59er-Runde aber hatte nichts mit Glück oder Schicksal zu tun.

 

Ein unglaublicher Junge

Wie unglaublich dieser Junge ist, wurde mir auf der elften Bahn klar, einem Par 5. Martin hatte noch 230 Meter vor sich und zog einen viel zu kurzen Schläger aus der Tasche – ein Eisen. Ich verstand nicht, warum er plötzlich vorsichtig spielen wollte. Da schwang er durch, und ich starrte ungläubig auf das Grün. Der Ball lag einen Meter hinter der Fahne. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen Schlag gesehen, bei dem ich sagen musste: Den kann ich nicht. Sie hätten mir hundert Bälle auf die Stelle legen können, ich hätte nicht einen so schlagen können wie Martin. Für einen Profi ist dies übrigens ein bitteres Geständnis. Eigentlich können wir ja alles…

Martin versenkte den folgenden Schlag, und spätestens jetzt wusste ich, dass hier etwas Außergewöhnliches möglich ist. Ich weiß noch, wie ich nun darauf achtete, sein Ergebnis in Schönschrift einzutragen. Es wäre ja peinlich, wenn er Platzrekord spielt und auf der Scorecard fände sich nur Geschmiere. Und ich drückte Martin die Daumen. Golfer stehen zwar im Wettbewerb, freuen sich aber dennoch für den Mitspieler. Zumal man sich von gutem Spiel oft anstecken lässt. Ich habe damals eine respektable 68er-Runde gespielt. Neben Kaymer fühlte sie sich an wie eine 80.

Auf der 15 sprach Martin mich auf meinen Rekord an. Bis zu diesem Tag hatte ich die beste Runde der Tour gespielt. Eine 61 in meinem Heimatclub Holledau. „Was war das für ein Gefühl?“, fragte er. Ich sagte: „Wahrscheinlich das Gleiche, das du jetzt auch fühlst.“ Wir lachten. Das Wort 59 nahmen wir aber nicht in den Mund. Das bringt Unglück.

 

Wir haben viermal nachgerechnet

Nach 17 Bahnen wusste jeder, was los war. Käme Martin auf dem letzten Par vier mit drei Schlägen ins Ziel, wäre die Sensation perfekt. Zuschauer waren kaum auf der Anlage, aber aus dem Clubhaus strömten die Spieler auf den Platz. Bestimmt hundert Profis standen am Grün. Kaymer erreichte es mit zwei Schlägen, hatte aber den schwierigsten Putt des Tages vor sich. Vier Meter lang, bergab, von links nach rechts. Treis und ich spielten vor Martin, um ihm die Bühne zu überlassen. Er bereitete sich auf den Putt vor wie auf jeden anderen auch. Nicht kürzer, nicht länger. Der Ball machte sich auf den Weg und verschwand im Loch. Martin zeigte die erste Gefühlsregung des Tages: Er ballte die Hand zur Faust. Um ihn herum brach die Hölle los. Ich fiel ihm in die Arme, andere sanken vor ihm auf die Knie. Kurz darauf gingen wir ins Clubhaus und verglichen die Scores. Wir haben das Ergebnis vor der Unterschrift drei- oder viermal nachgerechnet, um ja keinen Fehler zu machen.

Jetzt, knapp fünf Jahre später, ist Martin Kaymer die Nummer 1 der Welt. Letzten Sommer haben wir uns kurz vor der BMW International Open in München getroffen. Wir haben uns unterhalten, als ein anderer Kollege zu uns stieß. Martin stellte mich vor: „Das ist der Lee. Er hat meine 59 unterschrieben.“ Das hat mich sehr gefreut.

Lee Spencer, 38 ist seit 1992 PGA Golfprofessional. Er unterrichtet in der Golfanlage Holledau.

(Im Original erschienen in der Welt am Sonntag.)